Einsatzmöglichkeiten

Stoffgeschichten gehören zur Textsorte der Erzählung, also narrativen und damit literarischen Texten; jedoch ist ihr Einsatzgebiet keineswegs nur auf den Literaturunterricht beschränkt. Schließlich geht es nicht immer explizit um literarisches Lernen, sondern oft dienen die Stoffgeschichten eher als Gesprächsanlässe für die literarische Anschlusskommunikation. Sie sind als diskursive „Aufhänger“ Bestandteile eines weiteren Verständnisses von literarischem Lernen (vgl. Abraham 2015), das nämlich

„im Kern ein Sammelbegriff für alle Beiträge literarischen Lesens und Textverstehens zur Persönlichkeitsbildung [ist], für die Katalysatorfunktion von Literatur im Rahmen der Selbstverständigung von Gemeinschaften über ihre Interessen, Erfahrungen und Werte und schließlich für die kulturstiftende und -bewahrende Funktion literarischer Kommunikation in allen Medien, derer sie sich bedient.“ (ebd., S. 7)

In diesem Sinne ist der didaktische Einsatz also nicht an den Deutschunterricht gebunden, im Gegenteil: Gemäß dem Prinzip des fächerübergreifenden Unterrichts kann ein literarischer Text als Impulsgeber entsprechend kontextualisierter Unterrichtseinheiten in Geographie, Wirtschaft oder Ethik dienen. In andere Sprachen übersetzt lassen sich an Stoffgeschichten zudem Fachwortschatz, Landeskunde und idiomatische literarische Erzählweisen thematisieren. Auch für Naturwissenschaften bieten Stoffgeschichten Potenziale, da sie einen grundlegend anderen Zugang zur Welt liefern. In diesen Erzählungen werden Perspektiven sichtbar, die in Sachtexten, Statistiken oder Berechnungen oft verborgen bleiben. Insofern stellen Stoffgeschichten eine interdisziplinäre Bereicherung für eine Vielzahl von Fächern dar.

Insgesamt verfolgen Stoffgeschichten das Ziel, dass die Schüler:innen nach dem erfolgreichen Durchlaufen der Unterrichtseinheit – unabhängig davon, um welchem Rohstoff es geht – in der Lage sind, fachtheoretisches Grundlagenwissen über die Produktion und den Konsum wiederzugeben. Schüler:innen sollen in diesem Zusammenhang begreifen, welche Bedeutung die Materialwege für die Umwelt und für die Endverbraucher:innen haben, und die Problemlagen erkennen, die durch Produktion, Konsum und Entsorgung vieler konfliktbehafteter und kontrovers diskutierter Rohstoffe entstehen. Die Schüler:innen vollziehen einen Perspektivwechsel, entwickeln Empathie mit Betroffenen, erkennen eigene Privilegien und reflektieren mögliche negative Auswirkungen eigener Konsumentscheidungen. Daraus werden letztendlich Konsequenzen für das eigene verantwortungsvolle Handeln im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung abgeleitet.

Ablauf

Benötigtes Material

  • Bilder für visuelle Impulse zum jeweiligen Rohstoff
  • Audio zur jeweiligen Stoffgeschichte
  • Arbeitsauftrag Gruppenarbeit
  • Ein von der Lehrperson gestellter Infotext zur jeweilgen „Rohstoffgewinnung/-herstellung“
  • Arbeitsblätter Einzelgruppen

Vorbereitung

Stoffgeschichten bedürfen keiner besonderer Vorbereitung; je nachdem, welcher Rohstoff thematisiert werden soll, sind jedoch sowohl die Stoffgeschichte selbst als auch die informativen Textgrundlagen für die Gruppenarbeit inhaltlich entsprechend anzupassen.

Außerdem kann es sich, je nach Altersstufe und Wissensstand der Schüler:innen in der Zielgruppe (insbesondere bei fremdsprachlichen Texten), anbieten, das sprachliche Niveau der grundlegenden Info-Texte entsprechend zu modifizieren.

Prototypische Durchführung
(in Anlehnung an Schmidt 2017 u. 2009, S. 128-131).

  1. Zunächst wird ein konkreter Stoff oder ein Produkt ausgewählt. Dies kann auch in Abstimmung mit der Lerngruppe geschehen. Dabei ist auf die Komplexität der Zusammenhänge zu achten. In der Regel reicht es aus, einen einzelnen Stoff zu behandeln (Palmöl, Aluminium, Wasser etc.); bei Produkten, die aus mehreren Stoffen bestehen (wie etwa Handys), können nicht alle Inhaltsstoffe zugleich nachverfolgt werden. Es kommt also auf die jeweilige Zielsetzung an und es eröffnen sich unterschiedliche Lernpotenziale, wenn statt der Einzelstoffnachverfolgung die Verwobenheit der Lieferketten im Fokus der Auseinandersetzung steht.
  2. In einem zweiten Schritt folgt eine umfangreiche Daten- und Faktensammlung, die in Einzelarbeit oder in Kleingruppen durchgeführt wird. Diese kann sowohl im Unterricht begleitet als auch zur Vorbereitung des Unterrichts organisiert werden. Zentral ist, dass „Werdegang“ oder Reise eines Stoffes im Mittelpunkt der Geschichte stehen.
  3. Ausgehend von den Recherche-Ergebnissen wird sukzessive eine Wertschöpfungskette des Stoffes erstellt und visualisiert (etwa in Form einer Mindmap). Darunter versteht man die (nahezu) vollständige Reise des Stoffes von seiner Herstellung oder dem Anbau über verschiedene Produktionsschritte hin zu dem Einsatzort sowie danach seiner Weiterverarbeitung oder Entsorgung.
    Am Beispiel Kleidung umfasst die Kette nach dem Anbau von Baumwolle u.a. Schritte in der Spinnerei, Färberei, Weberei, Näherei, dem Veredeln (z.B. Bleichen), bis ein Kleidungsstück über den Großhandel zu den Konsument:innen gelangt. Dabei kommen noch weitere Produktionsschritte hinzu, die weitere Stoffe integrieren (Knöpfe, Reißverschlüsse, Etiketten, Innenfutter, Schnittmuster etc.) oder direkt (Maschinenanlagen) bzw. indirekt (Marketing, Controlling, Transport etc.) Einfluss auf den Stoff nehmen.
  4. Nach und nach wird die erstellte Wertschöpfungskette um weitere Aspekte ergänzt, die entlang der Nachhaltigkeitsdimensionen verlaufen: Ökologische Aspekte umfassen etwa Umweltschäden, die während der Produktion entstehen; soziale Aspekte fokussieren oft die Arbeitsbedingungen entlang der Wertschöpfungskette und sind stark an Gerechtigkeitsfragen und Menschenrechtsverletzungen geknüpft; die ökonomischen Aspekte fokussieren z.B. Prozesse des lokalen, regionalen und globalen Handels oder Marketing-Phänomene; die kulturelle Dimension geht z.B. der Frage nach, wie der konkrete Stoff das kulturelle Handeln selbst verändert (etwa durch die Dominanz von Plastik oder Phänomene einer „Wegwerf-Gesellschaft“).
  5. Ausgehend von der umfassenden Kenntnis eines Stoffes erfolgt nun der Schritt ins kreative Schreiben. Die Schüler:innen bekommen einzeln oder in Kleingruppen den Auftrag, die Wertschöpfungskette oder Teile davon in eine literarische Form zu überführen. Dabei können sämtliche Medien und Genres ausgewählt werden. Begleitend kann die Lehrperson durch die Vermittlung von Schreibstrategien unterstützen. Dieser produktive Teil der Unterrichtseinheit sollte mindestens so lange dauern wie der Recherche-Teil, denn die Planung sowie der Schreibprozess verlangen einen hohen Grad an Komplexitätsreduktion.
  6. Anschließend werden die Stoffgeschichten der Schüler:innen in der Lerngruppe präsentiert. Im Plenum sollte jeweils die literarische Arbeit der Schüler:innen gewürdigt werden und zugleich eine Reflexion darüber erfolgen, welche Schritte der Wertschöpfungskette hier konkret beleuchtet wurden, welche Aspekte besonders schwer oder leicht zu vertexten waren und was am meisten Freude bereitet hat in der Umsetzung.

Alternative Formen

Wenn der literarische Schreibprozess nicht im Vordergrund stehen soll, gibt es als alternative Idee eine Vielzahl an Möglichkeiten, Stoffgeschichten anderweitig in den Unterricht einzubetten. Viele literarische Texte (z.B. Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“, Carlo Collodis „Pinocchio“ oder Filme wie „Blood Diamond“ (2006)) und auch journalistische Sachtexte enthalten oder sind ihrerseits Stoffgeschichten, was erst auf den zweiten Blick auffällt (vgl. Anselm & Hoiß 2021; Hoiß 2021). Diese können im Unterricht auch als solche (neu) gelesen werden und es lassen sich ausgehend von ihnen Teile der Wertschöpfungskette thematisieren.

Quellenverzeichnis

Abraham, Ulf (2015): Literarisches Lernen in kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leseräume, S. 6-15.

Anselm, Sabine und Hoiß, Christian (2021): Über- und unterirdisch – literarische Variationen des Waldes. Ein Beitrag zur Bildung für nachhaltige Entwicklung in einem wertereflexiven Literaturunterricht. In: Standtke, Jan und Wrobel, Dieter (Hrsg.): Beiträge zur Didaktik der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Trier: WVT.

Hoiß, Christian (2021): Den Wald ernten. Zum Umgang mit Holz im fachübergreifenden Kontext. In: informationen zur deutschdidaktik (ide) – Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, Heft 2/2021 „Wald – Ein kulturwissenschaftlicher Topos als Gegenstand des Deutschunterrichts” (hrsg. von Ursula Esterl und Nicola Mitterer).

Schmidt, Claudia (2009): Komplexe Phänomene und ihre Vermittelbarkeit: Eine empirische Untersuchung zu Klimaausstellungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Schmidt, Claudia (2017): Bildung zur Nachhaltigkeit – Stoffgeschichten. Ein Konzept zur Vermittlung komplexer interdisziplinärer Themen. In: Schulverwaltung Baden-Württemberg. 26. Jg./H. 6, S.177-180.